Ambulante Komplexversorgung startet ab 1. Oktober 2022

Behandeln im Team - Neues Versorgungsprogramm für Menschen mit psychischen Erkrankungen

27.09.2022

Sei es aufgrund von Depression, Schizophrenie oder den Folgen einer Traumatisierung – Menschen mit insbesondere schweren psychischen Erkrankungen benötigen häufig eine intensive, komplexe Behandlung. Infolge ihrer psychischen Erkrankung haben viele Betroffene Schwierigkeiten, ihren Alltag zu regeln. Sogar einfache Aktivitäten können sie, besonders in akuten Erkrankungsphasen, nicht ausführen. Es fällt ihnen dann oft auch schwer, selbst eine Ärztin oder einen Arzt beziehungsweise eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Ein neues Versorgungsprogramm soll nun eine aufeinander abgestimmte multiprofessionelle Behandlung und Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sicherstellen: die ambulante Komplexversorgung.

Verbesserung der Versorgung erwartet

Es gibt hierzulande umfassende Versorgungsangebote für Menschen mit psychischen Störungen. Die ambulante Komplexversorgung baut darauf auf: Sie setzt auf eine engere Vernetzung und Koordination der Behandlung. Dazu werden multiprofessionelle Netzverbünde gebildet, in denen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die Patientinnen und Patienten in enger Abstimmung mit Krankenhäusern, Pflegediensten und anderen Gesundheitsberufen wie Ergotherapeuten und Soziotherapeuten betreuen.

In einem Pilotprojekt in der Region Nordrhein wurde das bereits erfolgreich erprobt und so konnte eine Blaupause für die Regelversorgung geschaffen werden. Dort haben die Kassenärztliche Vereinigung und ein Netzwerkmanagement die berufsgruppenübergreifend vernetzte und koordinierte Komplexversorgung von psychisch erkrankten Menschen vor etwa zwei Jahren gestartet. Das Pilotprojekt wurde mit knapp
13 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert. Die Bilanz: Über 500 Ärzte und Ärztinnen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben an dem Programm teilgenommen. Tausende Patientinnen und Patienten konnten für eine Teilnahme gewonnen werden.

Nach der erfolgreichen Pilotierung des Nordrheiner Projekts hat der G-BA im September 2021 ein bundesweites Versorgungsprogramm für Erwachsene mit schweren psychischen Erkrankungen auf den Weg gebracht. Es startet am 1. Oktober 2022.

Hilfen aus einer Hand – Netzverbünde

Im Mittelpunkt des neuen Versorgungsprogramms stehen die Netzverbünde, in denen sich Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zusammenschließen. In enger Kooperation mit Kliniken und qualifizierten Gesundheitsberufen wie Ergotherapeuten und Soziotherapeuten sollen sie künftig für die Komplexbehandlung verantwortlich sein. Nicht nur die Vernetzung zwischen psychiatrischer und psychotherapeutischer Therapie, sondern auch eine Koordination unterschiedlicher, psychosozialer Hilfen ist vorgesehen. Das schließt Hilfen beim Wechsel zwischen stationärer und ambulanter Versorgung ein. Ein Programm zur Komplexbehandlung speziell für Kinder und Jugendliche soll folgen. Derzeit laufen dafür noch die Beratungen im G-BA.
 

Die Ausgestaltung des Programms hat der G-BA in einer Richtlinie geregelt (www.g-ba.de/richtlinien/126/). Demnach soll beim neuen Versorgungsprogramm das benötigte Fachwissen gebündelt werden – Stichwort: Netzverbund. Es soll stets einen Arzt oder Psychotherapeuten geben, der die Bezugsfunktion für die Patientin beziehungsweise den Patienten übernimmt. So sollen Betroffene immer von derselben Person medizinisch und psychotherapeutisch versorgt und begleitet werden. Zusätzlich beauftragt der Bezugsarzt oder Bezugstherapeut eine Fachkraft, bestimmte Koordinationsaufgaben zu übernehmen, zum Beispiel für die Patientinnen und Patienten Termine zu vereinbaren und sie bei Bedarf zu Hause aufzusuchen oder weitere Hilfen zu vermitteln.


Welche Patientinnen und Patienten erreicht werden sollen

Das Angebot richtet sich an Erwachsene mit einer insbesondere schweren psychischen Erkrankung, die aufgrund dessen die vorhandenen Versorgungsstrukturen nicht immer erreichen. Sie haben oftmals große Schwierigkeiten, passende Hilfen zu finden und zeitnah sowie fortlaufend zu nutzen, was sich auf den Krankheitsverlauf deutlich negativ auswirken kann.


Ein wichtiges Kriterium, das darüber entscheidet, ob jemand für die Komplexbehandlung infrage kommt, ist die Komplexität des Behandlungsbedarfs: Ein komplexer Behandlungsbedarf liegt vor, wenn pro Quartal der Einsatz von mindestens zwei Maßnahmen der Krankenbehandlung durch unterschiedliche Disziplinen nötig ist, um eine Heilung, Linderung oder Verhütung von Verschlimmerung der psychischen Erkrankung zu erreichen.


Darüber hinaus kommt bei der Indikationsstellung ein spezielles Messinstrument zum Einsatz, um Beeinträchtigungen in den psychischen, sozialen und beruflichen Lebensbereichen zu erfassen: die GAF-Skala. GAF steht für Global Assessment of Functioning (Globale Bewertung der Funktionsfähigkeit).


Ablauf der Komplexbehandlung: Schnell und kontinuierlich

Ob jemand für die ambulante Komplexbehandlung geeignet ist, stellt ein Mitglied des Netzverbundes anhand der vorgegebenen Kriterien in der Eingangssprechstunde fest. Der Zugang zur Eingangs-sprechstunde kann über eine Empfehlung oder Überweisung erfolgen, die beispielsweise der Hausarzt ausstellt. Möglich ist auch, dass die Patientinnen und Patienten sich direkt an einen Arzt oder Psychotherapeuten des Netzverbundes wenden. 


Nach dem ersten Kontakt in der Eingangssprechstunde folgt eine differenzialdiagnostische Abklärung, auf deren Grundlage die Bezugsärztin oder der Bezugsarzt beziehungsweise die Bezugspsychotherapeutin oder der Bezugstherapeut den Behandlungsplan erstellt. Alle Therapieschritte werden eng abgestimmt und koordiniert. Dazu finden beispielsweise regelmäßig Fallkonferenzen statt, die auch per Video oder telefonisch stattfinden können.


Ein Kernelement der Komplexbehandlung ist, dass der Patientin oder dem Patienten ein schneller Zugang ermöglicht werden muss. Betroffene, die sich an einen Netzverbund wenden, sollen möglichst innerhalb von sieben Werktagen einen Termin erhalten. Spätestens sieben Tage nach dem ersten Kontakt sollte die Differenzialdiagnostik abgeschlossen sein.


Abrechnung und Vergütung

Die aufeinander abgestimmte und koordinierte Versorgung ist für Ärzte und Psychotherapeuten mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden. Deshalb wird zum 1. Oktober 2022 ein neuer Abschnitt 37.5 in das EBM-Kapitel 37 aufgenommen.


Die Gebührenordnungspositionen (GOP) dieses Abschnittes können ausschließlich Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten berechnen, die zur Teilnahme an der Komplexversorgung berechtigt sind. Voraussetzung für die Abrechnung ist, dass dem Netzverbund eine Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein vorliegt. Über die neuen Leistungen werden wir Sie demnächst ausführlich informieren.


Details im Überblick: Organisation und Ablauf

So läuft die Komplexbehandlung ab:

  1. Eingangssprechstunde
  2. Differentialdiagnostik
  3. Erstellung eines Gesamtbehandlungsplans durch den Bezugsarzt bzw. den Bezugspsychotherapeuten
  4. Therapiebeginn
  5. Verlaufskontrolle, Fallkonferenzen und Überprüfung und ggf. Anpassung des Gesamtbehandlungsplans
  6. Überleitung in die Anschlussversorgung
  7. Behandlungsbeendigung


Kooperieren und organisieren: Arbeit in den Netzverbünden

Ein Netzverbund besteht aus mindestens 10 Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aus einer Region. Sie müssen für die Versorgung von gesetzlich Versicherten zugelassen sein. Sie schließen sich vertraglich zusammen mit dem Ziel, eine kontinuierliche, vernetzte und berufs- und sektorenübergreifende Versorgung von psychisch Erkrankten in der Region zu gewährleisten.

Das Kernteam im Netzverbund besteht aus: 

    • Mindestens 4 Fachärzten/-innen für:
        • Psychiatrie und Psychotherapie und/oder
        • Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und/oder
        • Nervenheilkunde oder Neurologie und Psychiatrie
    • Mindestens 4 ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten/-innen
    • Fachärzten/-innen für Neurologie

Bezugsarzt oder Bezugspsychotherapeut

Die Aufgaben der Bezugsärztin oder des Bezugsarztes oder der Bezugstherapeutin oder des Bezugspsychotherapeuten sind verantwortungsvoll. Dazu gehören die Erstellung eines individuellen Gesamtbehandlungsplans für die Patientin oder den Patienten und die Einleitung sämtlicher, notwendiger ambulanter, teilstationärer oder vollstationärer Behandlungen. Egal ob Ärztin beziehungsweise Arzt oder Psychotherapeutin beziehungsweise Psychotherapeut: Grundsätzlich können innerhalb eines Netzverbunds beide Berufsgruppen die Bezugsfunktion übernehmen. Wichtig ist laut Richtlinie nur, dass er oder sie über einen vollen Versorgungsauftrag verfügt.


Kooperationsverträge mit Kliniken, Netzverbundmitgliedern und weiteren Gesundheitsberufen

Die Netzverbundmitglieder sind dazu angehalten, alle Einzelheiten zur Zusammenarbeit in einem Netzverbundvertrag festzulegen. Jeder Netzverbund schließt außerdem Kooperationsverträge mit mindestens einem Krankenhaus, das eine psychiatrische oder psychosomatische Einrichtung für Erwachsene hat, sowie mit mindestens einer Person aus den folgenden Gesundheitsberufen: Ergotherapie, Soziotherapie und psychiatrische häusliche Krankenpflege. Mindestens ein kooperierendes Krankenhaus muss in der Region des Netzverbundes für die regionale psychiatrische Pflichtversorgung zuständig sein.


Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung

Da die Netzverbünde bestimmte Anforderungen erfüllen müssen, um die Versorgungsziele zu erreichen, benötigen sie eine Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH). Dazu reichen sie unter anderem den abgeschlossenen Netzverbundvertrag und die Kooperationsverträge bei der KVSH ein, die sie mit einem der vorgegebenen Partner abgeschlossen haben.


Ein entsprechendes Antragsformular wird zeitnah auf der Website der KVSH für Sie bereitgestellt. Außerdem wird ein Verzeichnis der Netzverbünde veröffentlicht, sodass Betroffene, aber auch Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erfahren, wo es in ihrer Nähe ein solches Angebot gibt. Das Verzeichnis wird nach der Genehmigung des ersten Netzverbundes online gehen.


PraxisInfoSpezial kostenfrei online herunterladen

Mehr Informationen zu den Zielen und Anforderungen an die ambulante Komplexversorgung hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) in der PraxisInfoSpezial „Ambulante Komplexbehandlung bei psychischen Erkrankungen“ zusammengefasst.

KBV-Themenseite Ambulante Komplexversorgung:

www.kbv.de/komplexversorgung

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